Schweinbewusstsein vagabundierend
„Der Mensch jedoch wird sich, indem er den Blick [eines Tieres] erwidert, seiner selbst bewusst.“
John Berger
Was erfahren wir über uns und unser Verhältnis zur Welt, wenn wir über unser Verhältnis zu Schweinen nachdenken?
Nachdem die Ausstellung „Ocular Witness. Schweinebewusstsein“ letztes Jahr im Sprengel Museum Hannover zu sehen war, lädt „Schweinebewusstsein vagabundierend“ nun an ländlichen Orten ein, sich dieser Frage zu widmen. Arbeiten von 14 Künstler*innen sind Teil der vagabundierenden Ausstellung. Für jede der fünf Stationen werden dank der Unterstützung der Künstler*innen jeweils eigene, ortspezifische Präsentationsformen entwickelt.
Zuerst macht „Schweinebewusstsein vagabundierend“ Station in Gladau, einer Gemeinde in Sachsen-Anhalt. Hier wurde 1972 eine der DDR-weit ersten Anlagen zur „industriellen Produktion von Schweinefleisch“ errichtet. Am Rand des Fiener Bruchs ursprünglich für 10.000 bzw. 20.000 Tiere errichtet, standen zwischenzeitlich bis zu 80.000 Tiere. Für 2021 wurde eine Zahl von etwa 36.000 Tieren genannt. Zurzeit wird der Ausbau der Biogasproduktion diskutiert.
ORTE
GEMEINDE GLADAU
30.4., 13.00 Uhr bis 1.5.24, 17.00 Uhr
Friedensstraße 30
39307 Gladau/Genthin, Sachsen-Anhalt
KULTURELLE LANDPARTIE, RAUM2EV
10. bis 19.5.24
Eröffnung: 9.5.24, 18.00 Uhr
Neu Tramm 3
29451 Dannenberg (Elbe), Niedersachsen
BURG KLEMPENOW
7.6. bis 2.9.24
Eröffnung: 7.6.24, 16.00 Uhr
17089 Breest, Klempenow 15
Tollensetal, Mecklenburg-Vorpommern
NEUES KUNSTHAUS AHRENSHOOP
9.6. bis 2.9.24
Eröffnung: 8.6.24, 17.00 Uhr
Bernhard-Seitz-Weg 3a
18347 Ahrenshoop, Mecklenburg-Vorpommern
KLEINFOLGENREICH E.V., SCHORTEWITZ
15.6. BIS 20.6.24
Eröffnung: 15.6.24, 16.00 Uhr
Nordstraße
06780 Zörbig/OT Schortewitz, Sachsen-Anhalt
www.schweinebewusstsein.de/de/orte
BETEILIGTE KÜNSTLER*INNEN UND WERKE
Max Baumann
*1961 Meißen, lebt in Zörbig-Schortewitz
stillschweigen (II). Gladau, März, April 2023. Inkjetprints (Auswahl) in Leuchtkästen/Tintenstrahldrucke (Auswahl), 58 x 88 cm, Rahmen 61,6 x 91,6 cm
Der Imker, Landschaftspädagoge, Lehrer und Künstler Max Baumann fotografierte bereits zu Themen wie Saatgutentwicklung, Automobilindustrie, Intensivmedizin und Raumfahrt. Für „Ocular Witness. Schweinebewusstsein“ fotografierte er in direkter Nähe zu einem mehr als 50 Jahre alten, inzwischen mehrfach ausgebauten Stallkomplex. Zwischenzeitlich standen hier mehr als 80.000 Schweine, 2023 sind es etwa 38.000. Wie entwickelt sich die Natur an einem solchen Ort?
Frank Berger
*1972 Leipzig, lebt in Leipzig
Fleischwerk Weißenfels, 2023, Video, loop
Tönnies Weißenfels ist Teil des weltweit größten Unternehmens der Fleischindustrie. Frank Berger fotografiert von einem festen Standpunkt aus alle an dem jeweiligen Tag in den Schlachthof ein- und ausfahrenden Transporte. Die Bildfolgen dokumentieren den Zeitrhythmus industrieller Fleischproduktion. Die Beschriftungen der Fahrzeuge geben auch Auskunft über das weit gefächerte Firmengeflecht.
Felix Bielmeier
*1987 Nürnberg, lebt in Leipzig
Versuch über die magischen Umwelten (Auswahl)
Zur Verringerung der Notwendigkeit, 2023 (Auswahl)
Tintenstrahldruck / Digitaldruck auf Plane
Der gelernte Koch und studierte Fotograf Felix Bielmeier entwickelte für das Projekt eine mehrteilige Arbeit, die unterschiedliche Versuche, das Schwein in seinen Bedürfnissen zu verstehen, unternimmt. In „Versuch über die magischen Umwelten“ thematisiert er das Sehen von Wildschweinen. Können Menschen das nachempfinden? Für „Zur Verringerung der Notwendigkeit“ fotografiert Bielmeier Gegenstände, die dem Tier in Haltungs-Stufe 2 auf 0,825 qm zur Beschäftigung angeboten werden. Diese Fläche ist kleiner als die eines Laufgitters für Kleinkinder.
Anetta Mona Chisa & Lucia Tkácová
*1975 Nadlac, RO, lebt in Prag / *1977 Banska Stiavnica, SK, lebt in Athen
when you’re adibas and you’re dreaming of becoming Adidas. A theatre play for Europe / wenn du adibas bist und davon träumst, adidas zu werden. Ein Theaterstück für Europa, 2011–2013, Video, Ton, 00:20:24. Libretto: Nicoleta Esinencu, Übertragung ins Deutsche: Eva Ruth Wemme, 2023
Eine moldawische Frau arbeitet im „reichen Westen“. Ihr Sohn versteht ihre Abwesenheit nicht. Der Vater berichtet ihm von jenem fernen wunderbaren Land, in dem das Geld nur in die Erde gelegt werden müsse – dann könne man es reichlich ernten. In diesem Land sei jetzt die Mutter. Sehnsucht nach ihr und die Hoffnung auf solche Wunder auch in der Heimat verführen den Jungen dazu, diese Methode der Geldmehrung zu erproben: Die Tragödie nimmt ihren Lauf. Erzählt wird eine Geschichte über die Psychologie des Geldes.
Anna Haifisch & Anja Koch
*1986 Leipzig, lebt in Leipzig / *1980 Gießen, lebt in Brück/Fläming
Anjas Schweine, 2023, Digitaldrucke nach Zeichnungen
Anja Koch betreibt den Landwirtschaftsbetrieb Fläminger Weideschweine und kennt ihre Tiere gut. Für „Ocular Witness. Schweinebewusstsein“ entwickelte sie gemeinsam mit der Comiczeichnerin Anna Haifisch ihr Porträts. Dass Schweine derart ausgeprägte Individuen sind, ist durch die Verhaltensforschung inzwischen belegt.
Jochen Lempert
*1958 Moers, lebt in Hamburg
Schwein, Schweine, 2023, Silbergelatineabzüge / Digitaldrucke, (Auswahl)
Die Arbeit des studierten Biologen und Künstlers Jochen Lempert ist geleitet vom Interesse am Miteinander der unterschiedlichen Gattungen und Arten. Dabei ist der Mensch nur eine unter vielen Arten: Gibt es einen fairen menschlichen Blick auf die Tier- und Pflanzenwelt? Wie könnte der aussehen? Und was sehen Tiere, wenn sie auf Menschen schauen?
Arne Schmitt
*1984 Mayen, lebt in Köln und Zürich
Terra Grundwerte oder der Versuch, die Punkte zu verbinden, 2023
19 Tintenstrahldrucke, 2 Digitaldrucke / Digitaldruck auf Folie
Der Fotograf Arne Schmitt setzt sich in seinem Werk häufig mit ideologischen und ökonomischen Einschreibungen in städtischen Räumen auseinander. Hier fragt er: Ist es möglich, große Schweinebestände auf „Augenhöhe“ sichtbar zu machen? Woran sind sie zu erkennen? Fotografie als Medium der Anschaulichkeit veranschaulicht hier Unanschaulichkeit: Der deutsche Marktführer ist nahezu unsichtbar und hat dank eines Eigentümerwechsels den Firmensitz nun in einer Schweizer Steuersparoase.
Wenke Seemann
*1978 Rostock, lebt in Berlin
Archivdialog #3: Große Wende. Frohe Zukunft, Wohlstandsversprechen, 2023. 100 Tintenstrahldrucke hinter bedrucktem Acrylglas / Digitaldruck auf Folie.
Die Soziologin und Künstlerin Wenke Seemann verwendet Aufnahmen von Anton Stettner und Karsten Rothberg aus dem Jahr 1987. Beide waren Teilnehmer des ersten staatlichen BRD-DDR-Praktikantenaustauschs im Bereich der Landwirtschaft. Seemann überschreibt die Fotografien mit Namen von landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften. Sie stehen für die Zukunftshoffnungen und Ideologien, die den LPG-Gründungen von 1952 bis in die 1970er-Jahre zugrunde lagen.
Maria Sewcz
*1960 Schwerin, lebt in Berlin
Lorbeer, Mönchsbart und Aspik, 2022/23
Tintenstrahldrucke / Digitaldruck (Auswahl)
Maria Sewcz suchte vor allem in der Stadt nach Schweinen. Sie fand sie portioniert und verarbeitet, auf ihrem eigenen Küchentisch und anderswo. Ihre Bilder zeigen aber auch menschliche Eingriffe in das, was wir Natur nennen. Da Sewcz vor allem mit dem Mobiltelefon fotografierte, erinnern ihre Bilder an die sogenannten „Food Porns“, die in den sozialen Medien weit verbreiteten Fotografien und Videos von Mahlzeiten und Lebensmitteln.
Cornfeld, 2021 (Auswahl)
Auf Einladung von Heidi Specker: Dragutin Banic, Lutz Braun, Susanne Bürner, Andrea Büttner, Daniela Burger, Sunah Choi, Tatjana Doll, Kerstin Drechsel, Lina Ehrentraut, Isabelle Fein, Gerd Grüneis, Olivier Guesselé-Garai, Anna Haifisch, Sebastian Hammwöhner, Peter Herrmann, Laura Horelli, Maximilian Kirmse, Ulrike Kuschel, Peter Lütje, Antje Majewski, Florian Merkel, Raaf van der Sman, Martin Städeli, Erik Swars, Beate Terfloth, Wawrzyniec Tokarski, Stefan Vogel, Marcus Weber.
Digitale Reproduktionen auf Plane/auf Papier/Postkartendruck nach Mischtechnik auf Papier
Alle von der Künstlerin Heidi Specker im Rahmen ihres Projektes Damme eingeladenen Künstler*innen überarbeiten die gleiche schematische Darstellung einer Maispflanze. Der mittels Gentechnik genormten Pflanze setzen die Mais-Blätter eine Vielzahl von Möglichkeiten entgegen.
Andrzej Steinbach
*1983 Czarnkow, PL, lebt in Berlin
Mögliche Ordnung, 2023. Drucke auf Grillteller nach Motiven der fotografischen Serie gleichen Titels, 2022
Wie definieren wir uns über das, was wir essen? An welchen biologischen und ökonomischen Kreisläufen haben wir Teil, wenn wir etwas kaufen und verzehren?
Pierre Bismuth
*1963 Paris, lebt in Brüssel
Vakuum mit Buch und Fleisch, 2023
Kognitive Dissonanz bezeichnet in der Psychologie einen als unangenehm empfundenen Gefühlszustand, der dadurch entsteht, dass ein Mensch unvereinbare Wahrnehmungen, Gedanken, Meinungen, Einstellungen, Wünsche oder Absichten hat: Wir wissen, was gut für unsere Umwelt und unsere Zukunft ist und essen gerne Fleisch und Wurstwaren. Auf die gleiche Weise begegnen sich in den vakuumierten Päckchen industriell produzierte Wurstwaren und kritische Literatur zu Fragen von Umwelt und Konsum.
Maria Sturm
*1985 Ploieti, RO, lebt in Berlin
Ein Tag Arbeit, 2023 Tintenstrahldrucke/hier Digitaldruck auf Folie (Auswahl)
Maria Sturm fotografiert für SCHWEINEBEWUSSTSEIN Landwirt*innen, die alternative Wege zu konventioneller Tierhaltung und Landwirtschaft gehen. Sie betreiben ganzjährige Freilandhaltung, haben auf Kreislauf- und biologische Landwirtschaft umgestellt oder sie erhalten traditionelle Arten und Sorten. Die Porträtierten sind zumeist Direktvermarkter. Sie sind eingebunden in Netzwerke wie die der Solidarischen Landwirtschaft, der BioBoden Genossenschaft, Kulturland e. G. oder des Ackersyndikats. Aufnahmen einer von Arbeit geformten Hand und von den Zitzen einer Sau sind dem beigestellt.
Young-Hae Chang Heavy Industries
Young-Hae Chang und Marc Voge, leben in Seoul, Zusammenarbeit seit 2000
Wie man ein Schwein human hausschlachtet, 2023
Video, Ton, 00:16:40, unter Verwendung von: Tizian (1490 bis 1576), Die Häutung des Marsyas (circa 1570 bis 1576), Arcidiecézní muzeum Kromeríž
Das Duo Young-Hae Chang und Marc Voge produziert digitale, textbasierte Werke, die mit musikalischen Soundtracks unterlegt sind. Hier unterrichten zwei Avatare in einer Schritt-für-Schritt-Handlungsanweisung über sogenanntes humanes Hausschlachten. In den Einblendungen eines Gemäldes von Tizian erinnert die Arbeit an eine Überlieferung aus der Antike: Der Satyrn und Halbgott Marsyas fordert den Gott Apoll zu einem musikalischen Wettstreit heraus. Apoll gewinnt, da er betrügt. Er straft den betrogenen Verlierer, der ihm auch im Status unterlegen ist, indem er ihm bei lebendigem Leibe mitleidlos die Haut abzieht.
Alle Arbeiten, soweit Originale, Leihgaben der Künstler*innen bzw. ihrer Galerien, für Jochen Lempert: BQ, Berlin, und ProjecteSD, Barcelona; für Arne Schmitt: Galerie Jacky Strenz, Frankfurt a. M., und Galerie K’, Bremen; für Andrzej Steinbach: Galerie Conradi, Hamburg. Wir danken den Künstler*innen für die freundliche Genehmigung, Arbeiten für die Wanderausstellung teils auf Planen reproduzieren zu dürfen.
KATALOG
Publikation ocular witness. Schweinebewusstsein, Texte (dt./eng.) von Fahim Amir, Anja Koch, Jenny Schäfer, Inka Schube, 192 S. mit 100 farbigen Abbildungen, SNOECK 2023
Gefördert von der Stiftung Niedersachsen, der Niedersächsischen Sparkassenstiftung, der Sparkasse Hannover, der VHV Stiftung und der Nord/LB Kulturstiftung. In Kooperation mit der Stiftung Leben & Umwelt/ Heinrich-Böll-Stiftung Niedersachsen.